Nachnachgedanken

Ich bin ja nun ganz viel in Kontakt mit ganz vielen Menschen, die sich für das Pilgern interessieren. Ich liebe diese Gespräche! Und manchmal kommen dann Fragen, die mich nachdenklich machen. Manchmal finde ich Antworten, manchmal nicht, manchmal finde ich Antworten aber auch gar nicht so spannend, sondern genieße einfach die Suche nach ihnen.

 

So, und hier muss ich jetzt ganz ausdrücklich darauf hinweisen, dass das, was ich hier schreibe, ganz alleine aus mir heraushupft und ganz bestimmt nicht den Anspruch hat, richtig zu sein oder auch für andere zu gelten. Es sind halt so MEINE Gedanken und glaubt mir, ich lange mir bei mir auch öfters an den Kopf und denke mir: Heideröslein, Andrea, da hast du aber mal wieder den Knall nicht gehört!

Warum gehst du den Camino?

Ich habe irgendwie in mir meinen inneren Dachboden gefunden. Oh, heute sind Dachböden anders, so aufgeräumt, so sauber, so ordentlich. Aber ich bin in einem ganz alten Haus aufgewachsen, da war der Dachboden noch zugig, die Balken trugen unverkliedet die Ziegeln und überall war Staub. Manche Dinge waren ordentlich (naja) in alten Schränken verstaut, andere standen halt da offen herum und man erkannte die Dauer ihres unbenutzten Daseins an der Dicke der Staubschicht. Ich gruselte mich immer ein bisschen, aber gleichzeitig war es auch so aufregend und abenteuerlich.

 

Beim Gehen hat man viel Zeit. Die Füße bewegen sich irgendwann wie von alleine, da ist kein Telefon, kein Fernseher, kein Terminkalender, aber auch kein Sofa, auf das man sich legen und die Äuglein ein bisschen ausruhen könnte. Also guckt man sich um, macht eine kleine Inspektion durchs Haus und findet plötzlich die Türe zum Dachboden. Oh, da ist man ja schon lange nicht mehr gewsen! Mal gucken, wie der so aussieht.

 

Natürlich findet man zuerst die Dinge ganz vorne. Die kennt man, die hatte man unlängst noch in der Hand. Bei denen dahinter muss man vielleicht nur ein bisschen den Staub wegpusten. Ach ja, an die erinnert man sich gut. Um an die Sachen dahinter zu kommen, muss man schon ein bisschen umräumen, hier etwas zur Seite stellen, da ein bisschen rücken. Pusten reicht nicht mehr, da muss man schon ein bisschen wischen. Aber guck: Das kennt man auch noch. Das ist ja lange her! Das hatte ich ... Da war ich ....  - Und dann kommen so schöne Erinnerungen. Na gut, und auch welche, die nicht so schön sind, aber das ist ja nicht mehr sooo schlimm, weil das ist ja ganz lange her.

 

Man verdüddelt ein bisschen die Zeit und vergisst sich selbst in längst vergangenen Tagen. Manchmal fällt einem ein: Da war doch noch ... - Man beginnt, nach ganz bestimmten Dingen zu suchen, findet manche gleich, manche erst, wenn man ganz viel anderes in der Hand hatte und manches gar nicht - vielleicht, weil man so viel anderes findet und darüber völlig vegisst, was man eigentlich gesucht hat. Und manche Sachen sind einfach auch zu langweilig, um länger mit ihnen zu träumen.

 

Am Ende sieht man selbst aus wie ein Staubwedel. Man hat ganz viele Dinge gefunden, die die eigene Person ausmachen, liebe Erinnerungen, auch nicht so liebe und auch welche, die muss man nun wirklich nicht haben. Aber die kann man ja gleich wieder irgendwo ganz nach hinten stellen oder noch besser: in die Tonne stopfen. So. Den Staub von den Händen geklatscht - weiter geht's!

 

Nun ist alles gesichtet, nun muss es "nur" noch wieder neu geordnet werden. Ja, Hallo! Wer hört den schon Mitten in der Arbeit auf? Nein, nein, der Dachboden wird aufgeräumt, und zwar jetzt! Die wichtigen Dinge nach vorne, die nicht so wichtigen nach hinten und den Bottich da, der kommt gleich mit nach unten, weil in dem sehen meine Rosen bestimmt besonders schön aus- und wenn nicht, kauft man halt welche, die darin schön aussehen.

 

Am Ende steht man wieder an der Tür und guckt noch einmal zurück: Alles strahlt so sauber und ordentlich, man fühlt sich so zufrieden, auch glücklich, weil da so viele Dinge waren, die man eigentlich schon längst vermisst hat. Dann kommt noch ein kleiner Seufzer, man geht wieder durch die Türe in den staubfreien Alltag und ist wieder mitten im Hier und Jetzt.

 

Nur manchmal, manchmal da guckt man sich um, dass einen auch niemand dabei erwischt, und dann schlüpft man mal eben schnell auf den Dachboden, hockt sich auf den alten Sitzsack und zieht seiner alten Puppe (ihr wisst schon, die, bei der immer der Arm herausgesprungen ist; da waren noch ganz viele andere Puppen, welche mit lockigen Haaren und feinen Kleidchen und rosigen Bäckchen, aber die eine, die immer ihren Arm verloren hat, so dass man ihn mit einem Kochlöffel wieder innen über den Haken stülpen musste, mit der hat man immer am liebsten gespielt) und baut mit dem alten Märklinkasten.

 

Für mich ist der Weg die Türe zu diesem Dachboden. Im Alltag kann ich das eine oder andere Minütchen abzwacken, um mich in ihn zurückzuziehen. Aber wenn ich auf dem Camino bin, wird Großrein gemacht. Und hinterher sieht er immer anders aus, weil jedes Mal andere Sachen wichtig sind und die, die das letzte Mal wichtig waren, auf einmal so ... nicht mehr ganz so wichtig.

 

Ich liebe das!

Was ist der Unterschied zwischen Pilgern und Wandern?

Über diese Frage habe ich so lange nachgedacht, dass ich hinterher selbst erschrocken bin. Was ist der Unterschied zwischen pilgern und wandern? Ich habe keine Antwort gefunden. Dann habe ich überlegt, auf welche Fragen ich noch keine Antwort finde: Warum kommen Socken nie paarweise aus der Waschmaschine? Was ist der Sinn des Lebens? Warum schmeckt ein Apfel nach Apfel und eine Apfelsine nicht nach Apfel, obwohl in "Apfelsine" doch "Apfel" drinsteckt?  - Na klasse!

 

Also die Sockenfrage hat mir so gar nicht weitergeholfen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens schon ein bisschen mehr: Die muss sich jeder für sich überlegen und kann sie auch nur ganz selbst und nur für sich alleine beantworten. Auch die Frage nach dem Sinn des Pilgerns muss sich jeder für sich stellen und für sich beantworten. Oh, da haben wir doch schon ein Schrittchen gemacht!

 

Die Frage nach Apfel und Apfelsine, die finde ich aber jetzt richtig gut, weil das eine im anderen drin ist und doch ganz anders und so gar nicht gleich. Man kann wandern mit und ohne zu pilgern, pilgern mit und ohne zu wandern, wanderd pilgern oder pilgernd wandern. Und man kann auch alles zusammen in nur einer Minute.

 

Ich denke, dass pilgern und wandern auf verschiedenen Ebenen ablaufen: Wandern ist die Fortbewegung mit Hilfe der eigenen Füße, pilgern ist die Bewegung in Kopf und Bauch. Das eine schließt das andere nicht aus, zieht es aber auch nicht unbedingt mit sich. Und das ist doch auch gut so, denn so kriegt der Weg (vielleicht auch ein bisschen das Leben) doch viel mehr Facetten, weil man, anstatt sich nur auf das eine oder andere zu beschränken, beides miteinander mischen kann: Mal ein bisschen mehr nur laufen, mal ein bisschen mehr denken und fühlen, mal so mit denken und fühlen beschäftigt sein, dass man das Laufen glatt vergisst.

 

Also meine Antwort auf diese Frage ist, dass ich sie gar nicht mehr beantworten möchte, weil ich es viel schöner finde, beides zu tun.