13.05.2013 Palas de Rei

Huhu! Ich lebe noch! Aber Kinders, die letzten Tage waren so voll und mir jede Minute so wichtig und wertvoll, da wollte ich nix verpassen. Und zu schreiben war mir ehrlich gesagt ein Grusel. Also seid mir bitte nicht böse (oh, guckt, ich habe wieder ein Ö und ein Ü und ein Ä, ich muss es nur suchen! Und das Z ist auch nicht mehr da, wo sonst das Y hingehört. Heideröslein, das ist jetzt auch wieder eine Umstellung!). Ich hole alles nach und nach nach. Versprochen. Und weil ich jetzt wieder an meinem eigenen Laptop sitzen kann, wird es sicherlich vielleicht hier und da etwas ausführlicher werden.

 

Der Weg nach Portomarin ist so schön! Und das ist auch gut so, denn ich habe heute gar keine Lust zu laufen. Irgendwie würde ich gerne langsam mal wieder etwas anderes machen als morgens aufzustehen, meinen Rucksack zu packen und meine Wanderschuhe anzuziehen. Nur mal so ein bisschen zur Abwechslung. Mal wieder ein bisschen Frühstück in meiner Küche machen und an meinem Tisch essen, danach ein bisschen unter meiner Dusche stehen (ich weiß gar nicht mehr, wie die sich anfühlt!), dann ins Schlafzimmer gehen und überlegen, worauf ich heute Lust habe es anzuziehen: Hose, Kleid, Shirt, Pullover, Jacke. Hier habe ich nur die Wahl zwischen Hose kurz mit Gänsehautgebibber, Zipphose lang, die ich aber eigentlich nur über der Laufhose trage, wenn es zu kalt ist, Laufhose (ach ja, die könnte ich ja heute mal wieder anziehen, die hat mich über Nacht bestimmt schon vermisst) und Leggings (meine Schlafhosen), T-shirt grün, gelb oder lila und Softshell oder Fleece unter der Regenjacke (heute zum Glück nicht beides).

 

Ähm, ich glaube, ich kriege Heimweh. Ähm, ich glaube, ich kriege viel Heimweh. Ähm. Tja. Nutzt nix. Weiter geht’s.

Über die Brücke nach Portomarin folge ich meinem brasilianischen Lieblingsfeind von gestern und mir vergeht jedes Grauen vor seiner Höhe und Sicht nach unten: Er schmettert so lauthals ein fröhliches Liedlein, dass ich ganz und gar nicht merke, wie ich über dieses Ding watschele. An der Stadt laufe ich nur vorbei und so schnell wie möglich weiter. Ich möchte ja nicht unbedingt den 100 km-Tagesbeutelchenträgern in die Füße kommen, ich laufe ja azyklisch, ich bin ja ein Fuchs … Kinders, und was für einer! Ich bin ein Monstrum an Intelligenz und Weitsicht, weil als ich gerade die Stadt passiere, sind die gerade alle vom Frühstück aufgestanden und haben sich auch auf den Weg gemacht. Ja, da habe ich ja etwas gekonnt!

Den Rest des Tages verbringe ich nur noch zwischen Pulken. Vor mir und hinter mir herrscht Volksfeststimmung. In einem kleinen Waldstück kriege ich die Krise und setze mich auf einen Baumstumpf und beobachte, was so um mich herumgeistert. Innerhalb kürzester Zeit stiefeln oder sportschuhen bestimmt 200 Menschen an mir vorbei, davon höchstens 20 mit Rucksack, von denen 17 frisch und sehr unverbraucht aussehen. Eine hat sogar eine Bügelfalte in der Zipphose. Bei einem baumelt die Videokamera griffbereit an der Seite. Von 3 weiß ich, dass die nicht mehr nach Lenor duften, schon lange nicht mehr. Vom Rest tragen eben ganz viele Beutelchen, ganz viele aber auch noch nicht einmal die. Sie schwenken ihre Wasserfläschchen in der Hand und hüpfen völlig unbeschwert über den Weg. Drei Herren tragen nix außer ihrem Fotoapparat auf dem Bauch. Eigentlich wollte ich hier etwas frühstücken, aber irgendwie bin ich auch ungegessen satt.

Es tut mir leid, wenn ich hier jetzt so dolle über diese Menschen lästere. Seht es mir einfach nach und dem Umstand, dass ich auch nur ein Mensch bin und manchmal ziemlich eitel. Und eine solche Persönlichkeit erträgt es dann einfach nicht, wenn andere leichtfüßig an einem vorbeihupsen, frisch, fröhlich und ungeniert, während man selbst auf den Brustwarzen kraucht, weil der Rucksack jedes frische, fröhliche und freie Hupsen unmöglich macht. Ich meine, nicht dass ich den bräuchte, um nicht frisch, fröhlich und frei hupsen zu können. Das kann ich von ganz alleine nicht. Aber mit Kiepe eben noch mehr nicht. Aber dass ich dann in einer Tour von anderen überholt werde, das nehme ich denen nun doch und wirklich krumm. Hallo! Ich bin ein gestandenes Pilgerweib, das hat man nicht zu überholen. Da hat man wenigstens so zu tun, als ob man sich wenigstens ein bisschen anstrengen würde!

 

Wenn ich so überlege, sind mi die Läufer mit ein bisschen größeren Rucksäcken die Liebsten. Die haben zwar ihre Sachen dabei, aber nach Schlafsack sehen die nicht aus. Die haben Zimmer gebucht und nehmen mir kein Bett weg. Die Tagesbeutelchen- oder Garnixträger sind mir suspekt, weil die könnten ja Schlafsäcke in ihren Koffern haben.

Irgendwann kommt Jakob, den ich seit vor Fromista immer wieder gesehen habe. Er läuft auch nicht beschwingt, sondern eher noch schwerfälliger als ich (und das will nun doch auch etwas heißen!). Er hat seit ein paar Tagen ganz schlimme Schmerzen im Bein und kann nur noch kurze Etappen gehen. Eigentlich könnte ich mich ja jetzt freuen, dass mich endlich mal jemand nicht überholt, aber das fällt beim Anblick seines Ganges ganz schnell aus. Er tut mir so leid und ich habe solche Hochachtung vor ihm, dass er nicht aufgibt, sondern weitergeht. Am 21. hat er Geburtstag, da will er in Santiago sein!

Ich wackele weiter. An meinem nächsten Bar-Stopp überkommt mich die nächste Krise: Am Nebentisch sitzen einige Deutsche, die wohl ein bisschen älter sind als ich, aber nicht viel. Sie vergleichen lautstark ihre Wanderführer, kommentieren ihre großartige, bisherige Tagesleistung und beglückwünschen sich selbst und gegenseitig dafür, dass sie seit gestern ja immerhin schon 30 von 100 km gelaufen sind und diese übermenschliche Anstrengung überlebt haben! Und ich komme mir immer ganz klein und mickrig bei den Pilgern vor, die den ganzen Weg seit Saint-Jean in einem Rutsch laufen!

Etwa 6 oder 7 km vor Palas de Rei werden meine Stiefel so schwer, dass ich in ihnen auf gar keinen Fall weitergehen mag. Da sehe ich eine Herberge mit einer Holzbank. Die gehört mir! Zielstrebig schleiche ich darauf zu, setze meinen Rucksack ab und habe schon einen Schuh ausgezogen, da kommt der Herbergsbesitzer und will mich doch tatsächlich verscheuchen! Weil ich meine Schuhe wechseln will! Hallo! Wo sind wir denn hier? Als ich aus meinem zweiten Stiefel schlüpfe, hupft er wie Rumpelstilzchen in seinen besten Tagen! Ja glaubt der ernsthaft, dass ich meine Stiefel jetzt wieder ausziehe? Nee, ne? Ich ignoriere ihn geflissentlich, ignoriere auch seine Beschimpfungen und packe meine Sandalen aus, während Senor ins Haus verschwindet, um Senora zu holen und dann mit ihr gemeinsam auf mich einzureden, dass ich gefälligst von hier verschwinden soll. Unterbrochen werden ihre Tiraden nur durch eine Dame, die mit Tagesbeutelchen von hinten kommend aus einem Taxi steigt und sehr freundlich von ihnen begrüßt wird. Ich bin fertig, verlasse diesen gastlichen Ort und sehe doch gerade noch, wie in eben dieses Taxi ein anderes Tagesbeutelchen verschwindet.

Ich bleibe wieder in der Herberge noch vor dem Ort, wo wir letztes Mal auch übernachtet haben. Ja, ich weiss, dass ich da noch ein Stückchen zu laufen habe, um die Stadt zu erreichen. Aber mir ist so gar nicht nach weitergehen und ich habe auch, bei dem Pilgeraufkommen hier, ein bisschen Angst, dass ich mich in den Ort hineinschleppe und da nur überall „completo“ höre. Hier ist noch ganz viel Platz, die Dusche ist richtig mit sprüh und viel Wasser und der kleine „Spaziergang“ in die Ortsmitte macht mir nun nicht sooo viel aus.

 

Als ich mit meinen Sachen fertig bin und noch ein bisschen auf einem Stein in der Sonne gesessen und mich ausgeruht habe, mache ich mich also auf die Sandalen und besuche als erstes die Kirche. Hier bekomme ich einen Stempel ins Credencial, trage meinen Namen in ein Gästebuch ein und sehe doch glatt, dass ich den Vorletzten Namen kenne: Alexandra, mit der ich ganz viel Kontakt über das Pilgerforum hatte und von der ich zwar weiss, dass sie irgendwo in der Nähe sein muss, aber nicht, wo genau sie steckt. Das heißt, jetzt weiß ich es schon. Sie ist auch hier in Palas de Rei. Na, da muss ich doch mal gucken.

Nun funktionieren meine Augen aber nicht so richtig, wenn mein Bauch sagt, dass ich Hunger habe. Also setze ich mich vor einer Bar mitten in die Sonne, bestelle mir Pulpo und warte mal, was passiert. Bei mir bleiben ganz viele Menschen stehen, fragen mich, ob das diese berühmtberüchtigte Speise sei, rümpfen mehr oder weniger diskret die Nase und wissen sofort, was sie auf gar keinen Fall essen wollen. Dabei ist er soooo lecker!

 

Weil es hier kein WiFi gibt, verlagere ich mich nach dem Essen in eine andere Bar und kriege Krüddel: Da ist eine Deutsche die ganz laut damit prahlt, dass sie heute den Bus genommen hat und ab sofort eh nicht mehr gedenkt zu laufen. Hallo! Das geht ja gar nicht! Und schon mal überhaupt nicht in dieser Lautstärke! Wenn man schon mogelt, dann doch wenigstens nicht mit Megaphon, sondern heimlich, still und leise. So viel Anstand muss sein! Ich meine, sind wir doch mal ehrlich: Nicht jeder, der seine Compostela bekommt, ist auch nur zumindest diese letzten 100 km auf eigenen Treterchen gewackelt. Einen Stempel kann man sich in jeder Bar, jedem Restaurant und jedem Hotel geben lassen. Aber ich gehe doch auch nicht zu Aldi, stelle mich an die Kasse und brülle, dass ich gerade einen Käse geklaut habe, oder?

 

Ich gucke mich immer wieder um, aber es will mir keine Dame über den Weg laufen, die aussieht, als könnte sie Alexandra heißen. Also schreibe ich ihr eine Nachricht, ob das sein kann, das wir gerade im gleichen Ort sind. Vielleicht liest sie sie ja. Dann wackele ich wieder zurück zu meinem Bett, in dem ich inzwischen von Pilgern umzingelt bin, stopfe mir Pfropfen in die Ohren und schließe meine Äuglein.

 

Erkenntnis des Tages: Wenn ein schlauer Fuchs sich selbst in den Schwanz beißt und ihm das wehtut, dann weiß er wenigstens, dass er noch da ist, der Schwanz … er, der Fuchs, auch, weil sonst könnte er sich ja nicht selbst wehtun.